Studie weist auf Unwissenheit über Armut in der Schweiz hin
Die Studie «Armut-Identität-Gesellschaft», die zwischen 2019 und 2023 durchgeführt wurde, zeigt zudem, dass sich Armut in Familien über mehrere Generationen hinweg fortsetzt. «Es handelt sich um eine systemische und strukturelle Problematik. Die Menschen haben Mühe, aus dieser Abwärtsspirale auszubrechen», sagte Perry Proellochs, der bei der Nichtregierungsorganisation (NGO) ATD Vierte Welt arbeitet, gegenüber Keystone-SDA.
Ein Grund dafür sind demnach Vorurteile, die das Potenzial und die Handlungsfähigkeit der Menschen ausblenden. Aus Scham oder Angst verzichten die Betroffenen womöglich darauf, Sozialhilfe zu beantragen, die zudem von der Gesellschaft oft eher als Almosen denn als Recht wahrgenommen wird.
Diese falsche Sichtweise drängt die von Armut betroffenen Menschen einerseits in die Rolle von Bittstellern. Andererseits rechtfertigt sie die Auferlegung von Zwängen durch die Behörden, so die Studie. «Menschen, die in Armut leben, werden von der Gesellschaft immer noch wahrgenommen als selber schuld an ihrer Situation», sagte Proellochs.
Zunehmende Einkommens-Armut
Der Bericht zeigt ausserdem, dass Armut allzu oft auf die Tatsache reduziert wird, dass man kein Einkommen hat und seine Rechnungen nicht bezahlen kann. In Wirklichkeit beeinträchtigt die Armut das soziale und kulturelle Leben einer Person, was eine zunehmende Marginalisierung zur Folge hat. Weitere entscheidende Kriterien sind Diskriminierung und Ausgrenzung.
Zahlen des Bundesamtes für Statistik vom vergangenen Dienstag zeigen, dass die Einkommens-Armut in der Schweiz zugenommen hat. 2021 waren 745'000 Personen davon betroffen, was 8,7 Prozent der Bevölkerung entspricht, gegenüber 8,5 Prozent ein Jahr zuvor.
Die Studie von ATD Vierte Welt, die unter anderem vom Bundesamt für Justiz unterstützt wurde, haben Forschende und Fachleute der Sozialhilfe unter gleichberechtigter Beteiligung von Armutsbetroffenen durchgeführt. Sie wird am Dienstagnachmittag im Rahmen eines Symposiums in Bern vorgestellt, das von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider eröffnet wird.