Obdachlosigkeit in der Corona-Krise: «Die Leute haben mehr Angst vor uns»
Es ist ein kalter Wintermorgen in Winterthur, kurz vor 9 Uhr. An der Habsburgstrasse, beim Haus mit dem grossen Anker an der Wand, herrscht reger Betrieb. Mehrere Personen kommen aus der Tür. Es ist das Durchgangsheim der Heilsarmee. Hier finden Obdachlose einen warmen Schlafplatz. Zu dieser Uhrzeit müssen sie allerdings wieder draussen sein.
Zu ihnen gehören auch Kimberley* und Kevin*. Die beiden haben sich dazu bereit erklärt, ihre Lebenssituation zu schildern. Neben ihnen stehen Marina Brunner, die Standortleiterin, und Mirjam Ott, die Sozialpädagogische Betreuerin. Auch sie werden Auskunft geben.
Gemeinsam gehen sie hinein, ein paar Tritte die Treppe hinauf, biegen rechts ab und schreiten durch eine graue Tür in einen kleinen Raum. Es ist das Büro von Marina Brunner und Mirjam Ott. An einem runden Tisch setzen sie sich um das TOP-Mikrofon. Kimberley und Kevin zünden sich eine Zigarette an. «Es ist schwer, über die Situation zu sprechen, darum sind wir zu zweit hier», erklärt Kevin.
Wie Kevin und Kimberley die schwierige Situation meistern und wie sie das Coronavirus beeinflusst – im Beitrag von RADIO TOP:
Kevin ist seit gut einem halben Jahr ohne Dach über dem Kopf. «Ich war auf dem Heimweg vom Winterthurer Bahnhof, als mein Telefon klingelte und mir meine damalige Freundin sagte, ich müsse nicht mehr nach Hause kommen», erzählt er. Es ist nicht das erste Mal, Kevin war bereits vor dieser Beziehung ohne Obdach. Kimberley erzählt, dass sie seit rund elf Jahren keinen festen Wohnsitz mehr hat. Auch bei ihr war eine in die Brüche gegangene Beziehung der Grund.
Geduldig beantworten die beiden die Fragen. Angesprochen auf das Thema Corona, zieht Kevin zuerst an seiner Zigarette, und sagt dann mit ernster Miene: «In der Pandemie ist es schlimmer geworden.» Er spricht darauf an, dass man nun «sichtbar» sei, da alle Zuhause sind. Damit meint er, dass man nun halt auffalle, weil sonst niemand draussen ist. Die Polizei habe schon ein paar seiner Kollegen nach Hause geschickt. Doch die hätten ja keines. Und die Angst der Leute vor Obdachlosen sei grösser geworden. Vor allem die Vorurteile seien schlimm. Kimberley nickt. Sie wünsche sich mehr Verständnis. «Sie verstehen uns nicht und können unsere Situation nicht nachvollziehen», erzählt sie.
Dem pflichten auch die Standortleiterin Marina Brunner und die Sozialpädagogische Betreuerin Mirjam Ott bei. Die beiden kümmern sich mit ihrem Team um die Schutzsuchenden an der Habsburgstrasse. Auch für sie stelle Corona eine grosse Herausforderung dar. Auch bei ihnen gelte ein Schutzkonzept, sagt Ott: «Wir messen die Temperatur der Personen, bevor sie hineindürfen.» Und natürlich gelte auch hier die Maskenpflicht. Die Umstände führen zu schwierigen Situationen.
Wie die Betreuenden der Heilsarmee mit den schwierigen Corona-Bedingungen umgehen – im Beitrag von RADIO TOP:
Als Beispiel nennt Brunner ein Zimmer im ersten Stock. Dort hat es fünf Betten, doch nur zwei dürfen belegt werden. Das wiederum bedeutet, dass nicht alle Obdachlose einen Platz finden. Brunner erklärt, dass sie nun eine Triage durchführen müssen – und das bedeutet wiederum Abweisungen. Das bedauere sie sehr und gehe eigentlich gegen die Grundüberzeugung. «Da streitet das Herz mit Kopf», sagt Brunner mit schwerer Stimme. Aber viele Schutzsuchenden seien nun mal Risikopatienten, und viele würden vermutlich eine Infektion nicht überleben.
Brunner und Ott üben auch Kritik. Mirjam Ott führt aus: «Ich wünschte mir, dass sich Ämter und Behörden etwas flexibler zeigten.» So könnte sich die Situation der Betroffenen schneller verbessern. Auch Brunner pflichtet dem bei: «Dieses Paragraphengereite ist menschenverachtend. Wenn die Liebe und das Mitgefühl hier ein bisschen mehr mitschwingen würden, wäre es sicher besser.»
(*Namen von der Redaktion geändert)