Illegale Adoptionen aus Indien: Zürcher und Thurgauer Behörden missachteten Gesetze
Was durch die Studie zum Vorschein kam, sei wahrhaftig «keine leichte Kost», sagte der Zürcher Staatsarchivar Beat Gnädinger vor den Medien. Er war es, der 2020 die Idee, die Adoptionen aus Indien im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts zu untersuchen, an die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr (SP) herangetragen hatte.
«Sie unterstützte die Idee sofort», sagte Gnädinger, der gleich auch den Kanton Thurgau mit ins Boot holen konnte. Andere Kantone lehnten laut Gnädinger eine Beteiligung an dieser unabhängigen und historisch-kritischen Studie aus unterschiedlichen Gründen ab.
Behörden waren informiert
Die Studie des dreiköpfigen Forscherteams bringt grobe Mängel bei der früheren Adoptionspraxis ans Licht. Sie kommt zum Schluss, dass die Schweizer Behörden über zahlreiche Fälle von problematischen bis rechtswidrigen Adoptionsvermittlungen aus Indien informiert waren und diese mittrugen.
Untersucht wurden die Adoptionen zwischen 1973 und 2002; 1972 trat in der Schweiz ein Gesetz in Kraft trat, welches das Adoptionswesen regelte und seit 2003 gilt das Hager Adoptionsübereinkommen. Weil die Adoptionen statistisch jedoch erst seit 1979 erhoben sind, seien die vorliegenden Zahlen also «Mindestzahlen», so die Forscherinnen.
Für die Studie forschten sie in verschiedenen Archiven der Schweiz, sprachen mit betroffenen Adoptivkindern und Eltern und reisten auch nach Indien. In einigen Akten gebe es Lücken, hiess es. Warum, bleibt unklar. Mit den heute noch lebenden Vermittlerinnen versuchten die Forscherinnen vergebens ins Gespräch zu kommen. «Eine Vermittlerin sagte, die Akten seien alle verjährt und nicht mehr relevant», sagte eine Forscherin.
Systematische Rechtsverstösse
Konkret adoptierten Schweizer Paare in diesem Zeitraum 2278 Kinder aus Indien. 256 Adoptionen betreffen den Kanton Zürich, 30 den Kanton Thurgau. In diesen beiden Kantonen kam es laut den Forscherinnen zu «Behördenversagen und systematischen Rechtsverstössen».
Die aufgedeckten Mängel betrafen den gesamten Prozess, wie aus der Studie hervorgeht. Sie begannen bereits vor der Aufnahme der indischen Kinder, setzten sich während des Pflegeverhältnisses fort und endeten beim Adoptivbescheid.
Konkret gab es Fälle, in denen die Behörden einer Adoption zustimmten, ohne dass ihnen die in der Schweiz gesetzlich verlangte Verzichtserklärung der indischen Eltern oder der Mutter vorlag. Die verantwortlichen Stellen der Kantone akzeptierten laut der Studie, dass zentrale Dokumente fehlten. Zudem liess der Kanton Zürich eine Vermittlungsstelle gewähren, die nicht über die nötige Bewilligung verfügte. Oft verschwand die leibliche Mutter auch aus den Dokumenten.
Angebot und Nachfrage
Die Forscherinnen kamen zum Schluss, dass das Stigma der kinderlosen Ehe in der Schweiz und das Stigma der unehelichen Mutterschaft in Indien ein Feld von Nachfrage und Angebot schufen. Sie publizierten auch ein Buch mit dem Titel «Mutter unbekannt: Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1972 - 2002» und schalteten eine Website auf.
Andere Studien zeigen ähnliche Probleme, 2022 etwa im Kanton St. Gallen betreffend Adoptionen aus Sri Lanka. Es gelte aber festzuhalten, dass es in den vergangenen zwei Jahrzehnten im Bereich der Adoptionen zu grundlegenden Verbesserungen gekommen sei, heisst es in der Medienmitteilung der Kantone Zürich und Thurgau.
Politische Vorstösse
Sowohl die Forscherinnen als auch die beiden Staatsarchivare von Zürich und Thurgau hoffen, dass nun Bewegung in das Adoptionswesen kommt. Die vorbehaltlose Zustimmung der beiden Regierungen zu dieser Studie sei auch ein Commitment, sich der Thematik anzunehmen, sagte Beat Gnädinger. Zudem gebe es in Zürich bereits mehrere politische Vorstösse. Im Kanton Thurgau würden diese sicher bald folgen, sagte der Thurgauer Staatsarchivar André Salathé.
Bei den Betroffenen lösten die Resultate der Studie «Bestürzung, Ohnmacht und Wut aus», wie der Verein «Back to the Roots» in einer Medienmitteilung schreibt. Sie zeigten erneut den dringenden Handlungsbedarf auf. Sarah Ineichen forderte vor den Medien spezifische Betreuung und Begleitung für Betroffene, um die Geschehnisse zu verarbeiten. «Nun braucht es schweizweite Koordination und Zusammenarbeit», sagte Ineichen.